Sprache als Wirklichkeits-Generator

Sprache ist weit mehr als ein neutrales Transportmittel. Sie ist nie „nur“ Beschreibung, sondern immer auch Gestaltung von Wirklichkeit. Im politischen Alltag, in den Medien und auch in der Therapie begegnen wir Sprache, die unsere Wahrnehmung strukturiert, Deutungsräume öffnet oder schließt und damit Handlungsspielräume erweitert oder beschneidet. Im Alltagsverständnis wird Sprache dagegen häufig reduziert auf das einfache Modell von Sender und Empfänger: Jemand sagt etwas, jemand anderes hört es – und die Botschaft ist übertragen. Dieses Bild wirkt eingängig, greift aber zu kurz. Denn Sprache rahmt, bewertet, legitimiert. Sie kann verharmlosen oder dramatisieren, mobilisieren oder lähmen.

Der systemische Denker Fritz B. Simon bringt es auf den Punkt: „Sprache ist Wirklichkeitsgenerator.“ Genau darum soll es hier gehen.

Sprache als Informationsrohr? Ein Beispiel

Wenn jemand sagt: „Es regnet draußen“, nehmen wir das meist als schlichte Information. Doch Sprache wirkt nie nur auf dieser Ebene. Besonders deutlich wird das, wenn wir den Satz etwas zuspitzen: „Es stürmt und regnet draußen.“

Aus dem Mund eines Kindes am Fenster ist er eine beiläufige Beobachtung. Eine Wanderführerin löst mit demselben Satz vielleicht eine Entscheidung aus: „Die Tour fällt aus.“ Und eine Politikerin, die ihn im Kontext von Extremwetter spricht, deutet ihn als Indiz für den Klimawandel. Ein identischer Satz kann also völlig verschiedene Wirklichkeiten schaffen – abhängig davon, wer ihn ausspricht, in welchem Kontext und mit welcher Absicht. Sprache ist immer Teil der Wirklichkeitskonstruktion.

Sprache formt Bedeutungsräume

Wenn wir Sprache nur als Informationsaustausch begreifen, übersehen wir ihre vielleicht wichtigste Wirkung: Sie formt Bedeutungsräume. Schon die Entscheidung für ein einzelnes Wort kann den Charakter einer Situation radikal verändern. „Das ist ein Test“ ruft Assoziationen von Prüfung, Druck und möglichem Scheitern hervor. „Das ist ein Experiment“ dagegen öffnet den Raum für Ausprobieren, Lernen und Entwicklung.

Sprache wirkt deshalb formatierend, weil sie Erfahrungen und Konzepte mit Etiketten versieht. Ein Begriff wie „Liebe“ oder „Depression“ ist nicht die Sache selbst, sondern ein Label, das einen ganzen Assoziationsraum aktiviert. Hinter solchen Etiketten stehen individuelle Bedeutungen, die zugleich kulturell überformt sind: Wir alle verbinden bestimmte Bilder, Geschichten und Bewertungen mit ihnen, die uns durch Medien, Bildung und kollektive Narrative geprägt wurden.

Gerade diese kulturelle Überformung macht die formative Dimension so machtvoll. Sie sorgt dafür, dass Begriffe nicht nur individuelle Bedeutungsfelder eröffnen, sondern kollektive Wirklichkeitsräume strukturieren. In der Therapie wird das besonders sichtbar: Wer von „Depression“ spricht, nimmt schnell eine kranke Identität an, die Handlungsspielräume einengt. Wer dieselbe Erfahrung als „Phase, in der vieles schwerfällt“ beschreibt, lässt offen, dass Veränderung möglich bleibt.

Auch politisch ist diese Rahmung entscheidend. Begriffe wie „Schummelsoftware“ verharmlosen systemischen Betrug, indem sie ihn in den kulturell vertrauten Bedeutungsraum kleiner Mogeleien verschieben. So wird eine neue Wirklichkeit erzeugt, in der schwerwiegende Missstände fast harmlos wirken. Sprache ist also nicht nur Medium, sondern Motor von Wirklichkeitsgestaltung.

Sprache im Diskurs: die Klima-Begriffe

Besonders anschaulich zeigt sich die formative Wirkung im Klimadiskurs. Jahrzehntelang dominierte der Begriff „Klimawandel“. Informativ verweist er schlicht auf das Klima und eine Veränderung. Doch schon der Anhang „Wandel“ rahmt: Wandel klingt im Deutschen neutral bis positiv. Mode wandelt sich, Gesellschaften wandeln sich, Jahreszeiten wandeln sich. Dieser Frame beschwichtigt. Er suggeriert, es handele sich um einen evolutionären Prozess, nicht um eine epochale Bedrohung. Dass das politisch gewollt war, zeigt die Geschichte: 2002 empfahl der republikanische Politikberater Frank Luntz, in den USA statt „global warming“ („globale Erwärmung“) lieber von „climate change“ zu sprechen, weil es „weniger beunruhigend“ klinge.

Als Gegengewicht etablierten Aktivist:innen und Journalist:innen später den Begriff „Klimakrise“. Dieser betont Dringlichkeit und Ausnahmezustand, hat aber ebenfalls einen blinden Fleck: Krisen gelten kulturell als vorübergehend. Eine Lebenskrise oder Finanzkrise mag schwer sein, doch sie wird überwunden. „Krise“ mobilisiert, lässt aber zugleich die Hoffnung auf Rückkehr zu Normalität entstehen – eine Normalität, die es in der Klimafrage längst nicht mehr gibt.

Noch drastischer wirken die Begriffe „Klimakatastrophe“ und „Klimakollaps“. Sie rufen Bilder von Zerstörung und Zusammenbruch hervor, sprechen von Endgültigkeit und Irreversibilität. Sie sind näher an den möglichen Folgen, wirken aber zugleich alarmistisch und bergen die Gefahr, Menschen in Resignation zu treiben.

Von „Wandel“ über „Krise“ hin zu „Katastrophe“ und „Kollaps“ verschiebt sich also die semantische Rahmung von Beschwichtigung über Dringlichkeit hin zu radikaler Bedrohung. Jeder dieser Begriffe erzeugt andere Assoziationen, öffnet andere Handlungsräume und begünstigt unterschiedliche Akteure. Industrie und konservative Politik profitierten lange vom beruhigenden „Wandel“, Bewegungen wie Fridays for Future vom mobilisierenden „Krise“-Frame, während NGOs mit Begriffen wie „Katastrophe“ Aufmerksamkeit erzielten, aber auch den Vorwurf der Panikmache riskierten. Sprache entscheidet so mit, ob Klimapolitik als Randthema, als temporäre Störung oder als existentielle Herausforderung erscheint.

Sprache im Diskurs: die „Flüchtlingskrise“

Ähnlich funktioniert der Begriff „Flüchtlingskrise“. Informativ verweist er auf eine Realität: Menschen fliehen vor Krieg, Verfolgung und Not. Doch mit dem Anhang „Krise“ verschiebt sich der Bedeutungsraum: Migration wird als Ausnahmezustand gerahmt, als temporäre Störung, die man managen müsse, bis Normalität zurückkehrt.

Damit werden Ursachen wie globale Ungleichheit, koloniale Kontinuitäten, Klimaveränderungen oder geopolitische Konflikte aus dem Blick gedrängt. Politisch ist dieser Frame bequem: Er legitimiert Grenzschließungen, Notstandsmaßnahmen und kurzfristige Hilfsprogramme, ohne die tieferen Systemfragen anzutasten. Gesellschaftlich vermittelt er Entlastung – nach der „Krise“ könne wieder Normalität einkehren. Dass es diese Normalität nie gegeben hat, verschwindet aus der Wahrnehmung. Migration ist ein Dauerphänomen der Menschheitsgeschichte.

Profitiert haben von diesem Begriff Regierungen, die sich auf außergewöhnliche Umstände berufen konnten, und populistische Bewegungen, die Ängste mobilisierten. Benachteiligt wurden Geflüchtete, die als Krisensymptome statt als Menschen gesehen wurden, und eine Gesellschaft, die den Blick auf Solidarität und Gerechtigkeit verliert.

Sprache im Diskurs: die „Schummelsoftware“

Ganz anders verhält es sich beim Begriff „Schummelsoftware“. Informativ verweist er auf Motorsteuerungsprogramme. Der formative Zusatz „Schummeln“ aber verlegt den Skandal in den kulturell vertrauten Bedeutungsraum kleiner Mogeleien. Schummeln kennen wir vom Spielen, von der Schule, von alltäglichen Tricksereien – fast immer begleitet von einem Augenzwinkern.

So wird aus systematischem Betrug mit gravierenden Folgen für Umwelt und Gesundheit sprachlich eine kleine Unregelmäßigkeit. Der Begriff entlastete Hersteller und Politik, während Konsument:innen und Öffentlichkeit getäuscht wurden. Anstelle einer „Manipulations- oder Betrugssoftware“, die Reformdruck erzeugt hätte, etablierte sich eine Verharmlosung, die Verantwortung verschob. Sprache erzeugte hier eine Ersatzwirklichkeit, in der strukturelle Betrugspraktiken harmlos wirkten – ein Paradebeispiel für formative Manipulation.

Sprache im Diskurs: der „Krieg gegen den Terror“

Während „Schummelsoftware“ verharmlost, bläht der Begriff „Krieg gegen den Terror“ auf. Der Sachanker ist real: Terror existiert. Doch das martialische Label „Krieg“ verwandelt ein asymmetrisches, kriminalpolitisches Phänomen in den Deutungsraum regulärer Armeen, Schlachten und Siege.

Die Folge ist ein semantischer Widerspruch, der politisch hoch wirksam wurde. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 legitimierte der Begriff weitreichende militärische Interventionen, obwohl Terrorismus sich militärischer Logik entzieht. Der Frame „Krieg“ schuf den Eindruck klarer Handlungsfähigkeit, während strukturelle Ursachen in den Hintergrund traten. Profiteure waren Regierungen und militärisch-industrielle Komplexe, Leidtragende Millionen Zivilist:innen, die unter Krieg und Ausnahmegesetzen litten.

Der Begriff zeigt, wie Sprache nicht nur beschönigen oder relativieren kann, sondern auch überhöhen und damit Handlungsoptionen schafft, die faktisch ins Leere laufen.

Sprache im Diskurs: die „Nutztiere“

Ein weiteres Beispiel für die formative Kraft von Sprache ist der Begriff „Nutztiere“. Informativ verweist er auf Tiere, die von Menschen gehalten werden. Entscheidend ist jedoch die Rahmung: Der Zusatz „Nutz-“ reduziert Lebewesen auf ihre Funktion für den Menschen – Fleisch, Milch, Eier, Leder oder Arbeitskraft. Tiere erscheinen so nicht als eigenständige Wesen mit Empfindungen und Bedürfnissen, sondern als Ressourcen, die verwertet werden.

Die formative Wirkung dieses Begriffs liegt darin, dass er Empathie systematisch unterbindet. Während Bezeichnungen wie „Hund“ oder „Katze“ Assoziationen von Individualität, Bindung und Fürsorge hervorrufen, wirkt „Nutztier“ sachlich und nüchtern. Der Begriff ordnet Tiere in ein ökonomisches Raster ein und verschiebt den Blick auf Praktikabilität, Effizienz und Versorgungssicherheit. Die Frage nach Leid, Ausbeutung oder Tötung tritt in den Hintergrund.

Die diskursstrategische Absicht ist klar: Indem die Tiere sprachlich zu „Nutztieren“ werden, lassen sich industrielle Haltungsformen und Massentierhaltung leichter legitimieren. Wo das Tier nur als Mittel zum Zweck erscheint, werden moralische Fragen entlastet und gesellschaftliche Akzeptanz erzeugt. Profitiert haben davon Agrarindustrie und Konsument:innen, die billige Produkte erwarten, während die Benachteiligten auf der Hand liegen: die Tiere selbst, deren Subjektstatus unsichtbar gemacht wird, und die Umwelt, die durch industrielle Landwirtschaft massiv belastet wird.

Auch kulturell ist der Begriff wirksam. „Nutzen“ ist im Deutschen positiv besetzt. Was „nützlich“ ist, gilt als wertvoll, zweckmäßig, effizient. Diese Überformung verstärkt den Effekt: Aus einem empfindsamen Lebewesen wird in der Wahrnehmung ein nützlicher Rohstofflieferant. Genau darin zeigt sich die Macht der Sprache. Der Begriff „Nutztier“ verwandelt eine Beziehung zwischen Mensch und Tier in ein Verhältnis von Produktion und Verbrauch – und erzeugt damit eine gesellschaftliche Wirklichkeit, in der industrielle Tierhaltung als selbstverständlich erscheint.


Fazit und Ausblick

Die Beispiele verdeutlichen, wie stark Sprache Bedeutungsräume rahmt und damit Wirklichkeiten erzeugt. Ob als Beschwichtigung („Klimawandel“), als Mobilisierung („Klimakrise“), als Entlastung („Flüchtlingskrise“), als Verharmlosung („Schummelsoftware“), als martialische Überhöhung („Krieg gegen den Terror“) oder als Reduktion auf reinen Zweck („Nutztiere“) – stets strukturiert Sprache, welche Aspekte sichtbar werden, welche Ursachen ausgeblendet bleiben und welche Handlungsoptionen plausibel erscheinen.

Dabei zeigt sich, dass Sprache nie neutral ist: Sie macht Akteure handlungsfähig, entlastet andere von Verantwortung, verschiebt Empathiegrenzen und prägt, wer profitiert und wer benachteiligt wird.

Damit ist klar: Sprache wirkt nicht nur informativ, sondern immer auch formativ – und genau hier liegt ihre Macht. Im zweiten Teil dieses Beitrags wird das Modell um die performative Dimension erweitert: Dort geht es um Sprache, die nicht nur beschreibt oder deutet, sondern Wirklichkeit unmittelbar in Kraft setzt.

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