Die meisten werden Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf noch kennen, die 12-jährige, die sich die Welt gemacht hat, wie sie ihr gefällt. Aber was hat das mit Coaching zu tun? Ich werde in diesem Beitrag versuchen, den Zusammenhang ein wenig zu erläutern. Denn hinter der Idee, sich die Welt ein wenig so zu machen, wie sie einem gefällt, kann ein wirkungsvolles Instrument stecken. Aber wie immer steckt dabei das Gute und das Schlechte nicht in den Dingen selbst, sondern in dem, was wir daraus machen. Aber eins nach dem anderen.
Worauf ich mit Pippi und ihrem bekannten Liedchen anspiele, ist die psychologische Wahrnehmungstheorie des Konstruktivismus`. Kurz und übersichtlich zusammengefasst besagt der Konstruktivismus, dass wir nur einen relativ geringen Teil unserer Umwelt direkt und unmittelbar wahrnehmen und dass der Rest, der erforderlich ist, um ein kohärentes Bild zu erstellen, durch unser Gehirn konstruiert wird. Solange dieses Bild weitestgehend widerspruchsfrei ist, fällt uns das gar nicht unbedingt auf.
Ein Grund dafür, warum unsere Wahrnehmung so funktioniert, besteht darin, dass unsere Aufmerksamkeitsspanne nicht ausreicht, um alle erdenklichen Informationen aus unserer Umwelt aufzunehmen. Und selbst wenn wir das könnten – es würde unsere Verarbeitungskapazitäten sprengen. Wir filtern also fleißig, aber unbewusst, diejenigen Informationen aus, die als nicht relevant oder störend eingeschätzt werden und konstruieren den Rest dazu. Es ist im Konstruktivismus daher unumstritten, dass wir alle in unserer eigenen Wirklichkeit leben – nicht völlig, aber in einem gewissen Maß wenigstens, unabhängig von der Realität. Ich benutze dieses Wortpaar gerne, Wirklichkeit vs. Realität, und trenne damit die individuelle Wahrnehmung der Welt als subjektive Wirklichkeit von der (möglicherweise existierenden oder auch nichtexistierenden) objektiven Realität. Aufgrund dieser Vorstellung von Wahrnehmung sprechen Psychologen, wie z.B. Gunther Schmidt, häufiger – mehr oder weniger scherzhaft – von Wahrgebung anstelle von Wahrnehmung. Eben weil es durchaus als ein Projektionsprozess in die Umwelt und nicht aus der Umwelt verstanden werden kann, wenn wir einen so großen Teil unserer Wahrnehmung selbst konstruieren.
„Moment…“, werden jetzt einige sagen, „… das ist doch Unsinn! Dass dort ein Stuhl steht, ist doch eindeutig und da werden wir uns alle schnell drauf einigen können!“ Ja, wahrscheinlich steht da wirklich ein Stuhl. Oder zumindest eine Zusammenstellung von z.B. Hölzern, auf eine bestimmte Art bearbeitet und zusammengesetzt und verbunden. Das als einen Stuhl zu erkennen, also etwas worauf man sitzen kann, ist allerdings schon ein kulturell bedingter Lernprozess. Andere Kulturen würde darin vermutlich nicht sofort eine Sitzgelegenheit erkennen. Also auch bei so einem trivialen Beispiel konstruieren wir unbemerkt bereits eine Menge Aspekte, die gar keine direkt beobachtbaren Eigenschaften des Betrachtungsobjekts sind, hinzu. Tatsächlich entfaltet der konstruktivistische Gedanke allerdings erst bei abstrakteren Konzepten seine volle Wucht. Denn sich darauf zu einigen, was z.B. eine Liebesbeziehung ausmacht, was genau Glück ist oder Erfolg, das lässt sich schon nicht mehr so einfach objektivieren, wie die Betrachtung einer Sitzgelegenheit. Und wenn es dann noch darum geht, Kommunikation zu entschlüsseln – also zu begreifen, was mein Gegenüber mir verbal oder nonverbal mitteilen möchte (oder ob er oder sie überhaupt gerade kommuniziert) – dann sind wir vollständig im Konstruktivismus angelangt.
Ein einfaches Beispiel: Ich gehe in der Stadt an einem Unbekannten vorbei und registriere dabei einen Blick in meine Richtung. Ist das schon Kommunikation, bin ich gemeint? Falls ja, warum schaut dieser unbekannte Mensch mich an? Ist irgendwas komisch mit mir, werde ich gerade attraktiv gefunden, sehe ich einem Freund dieses Unbekannten ähnlich? Offensichtlich gibt es eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten, da die Situation sehr mehrdeutig ist. Theoretisch muss in so einem Moment niemand den Interpretationsapparat anwerfen, es könnte uns gleichgültig sein. Meistens tun wir es aber dennoch, da wir alle ein Bedürfnis nach Kontrolle und Ordnung in uns tragen und wir daher gerne über unsere Umwelt Bescheid wissen (dazu in meinem Blogbeitrag zu den psychologischen Grundbedürfnissen mehr). Gleichzeitig interpretieren wir unsere Umwelt bevorzugt und ziemlich automatisch kongruent mit unseren bisherigen Vorstellungen von der Umwelt und uns in ihr. Wir filtern und interpretieren Informationen also so, dass das Ergebnis unserer Wahrnehmung möglichst gut in unser Weltbild hineinpasst (ein tieferer Einstieg und die Frage, was das mit Ethik zu tun hat, behandele ich im Blogbeitrag über den ethischen Imperativ). Bin ich also überzeugt davon, ein ausnehmend attraktiver und anziehender Mensch zu sein, dann sehe ich einen solchen mir zugeworfenen Blick mit großer Wahrscheinlichkeit als eine weitere Bestätigung meiner Attraktivität. Bin ich eher davon geprägt, mich als Außenseiter zu fühlen, mit dem irgendetwas nicht zu stimmen scheint, dann sehe ich einen solchen mir zugeworfenen Blick mit großer Wahrscheinlichkeit als eine Bestätigung meiner Unzulänglichkeit.
Wie der Blick gemeint war und ob er überhaupt uns galt, werden wir nicht herausfinden und vermutlich ist es auch gar nicht wichtig, was die ‚objektive Realität‘ hier ist. Da uns dieser Blick aber nun mal aufgefallen ist und wir uns – in solch mehrdeutigen Situationen – ohnehin eine Menge zusammendichten müssen – Wahrgebung eben – was spricht dann dagegen, dieser mehrdeutigen Situation einen positiven Sinn zu geben? Die Leitfrage wäre in einem solchen Fall also nicht, was objektiv richtig ist, sondern was mir guttut! In den allermeisten Fällen unseres Alltags spielt die objektive Seite keine oder nur eine geringe Rolle und sie nicht zu ergründen schadet niemandem. Im Gegenteil. Jeder kann ja mal probieren, einen Tag lang jeden Menschen, der ihm begegnet, kompromisslos so lange für freundlich zu halten, bis das Gegenteil eindeutig belegt ist. Oder die Unaufmerksamkeiten des Partners oder der Partnerin für Zerstreutheit und nicht für Desinteresse zu halten. Ich vermute, der Schaden an der Welt hält sich in Grenzen.
Wir können uns also bei unserem Blick in die Welt für eine kleine Portion Glück entscheiden, indem wir die positive Interpretationsvariante wählen – oder zumindest nicht die negative.
Und ja, wie oben bereits angedeutet, es gibt auch eine negative Seite dieser Strategie. Man kann das alles übertreiben – die Dosis macht das Gift. Läuft jemand durch die Welt und hält sich für unfehlbar und agiert dadurch übergriffig und aggressiv, dann ist das natürlich nicht vertretbar. Solche extremen Varianten tragen aber üblicherweise schon (semi-)pathologische Züge, auf jeden Fall sollte klar sein, dass ich eine solche Haltung nicht propagiere. Gleichzeitig müssen wir uns natürlich auch als ‚Normalmenschen‘ davor bewahren, uns allzu kritiklos in eine allseits gepolsterte Wohlfühlblase zu begeben, in der Selbstkritik nicht mehr vorkommt, da wir alle Kritik von innen und außen ausblenden. Aber selbst, wenn man mal das Maß etwas aus den Augen verliert: Auch hierfür gibt es Methoden und Übungen der Selbstbeobachtung, die man lernen kann. Hierzu in meinem Blogbeitrag zu Anteilen und zur Theorie der Persönlichkeits-System-Interaktion mehr!
In diesem Sinne: Macht´s wie Pippi und entscheidet euch fürs Glück!
Du brauchst Inspirationen? Dann melde dich gerne bei mir!