In diesem Beitrag geht es um Persönlichkeit und den Ansatz, den die PSI-Theorie zur Verfügung stellt, um Persönlichkeitsfacetten von Klient:innen im ersten Schritt zunächst einmal besser verstehen zu können und diese dann – in einem zweiten Schritt – in eine Richtung zu entwickeln, die ein mit dem Selbst kongruenteres Leben ermöglichen.

Aus meiner Sicht lässt sich die Bedeutung von „Persönlichkeit“ für den Coachingprozess nicht überschätzen. Gemessen an seiner Bedeutung finde ich den Begriff der Persönlichkeit allerdings schon fast schillernd. Gehören Alltagsbegriffe wie Charakter, Identität, Intelligenz, Talent, etc. zur Persönlichkeit dazu? Oder sind es getrennte, vielleicht auch überlappende Konstrukte? Allerdings möchte ich in diesem Beitrag auf die wissenschaftlichen Grundlagen und konzeptionellen Feinheiten des Begriffs der Persönlichkeit gar nicht mehr eingehen als nötig, um die PSI-Theorie grob überblicken zu können. Mir geht es vielmehr um den konkreten Nutzen des Begriffs für den Coachingprozess, also um die möglichen Erkenntnisse, die Klient:innen erlangen können, wenn der Coachingprozess durch diese „Brille“ betrachtet wird.

Und in diesem Zusammenhang halte ich die Persönlichkeitstheorie von Julius Kuhl für einen besonders wirksamen Ansatz. Das liegt einerseits daran, dass Kuhl den erfolgreichen Versuch unternommen hat, eine Metatheorie der Persönlichkeit zu entwickeln, die verschiedene persönlichkeitstheoretische und neurowissenschaftliche Ansätze vereint und ordnet und damit ein hohes Maß an Komplexität und Vielseitigkeit erreicht. Noch mehr liegt es allerdings daran, dass die Intention der Theorie der Persönlichkeits-System-Interaktion sich nicht darauf beschränkt, die Persönlichkeit einer bestimmten Kategorie zuzuordnen, wie es z.B. die BIG 5 oder auch DISG tun. Stattdessen geht die PSI-Theorie den entscheidenden Schritt weiter und zeigt die Entwicklungsmöglichkeiten auf, die sich aus der individuellen Persönlichkeitskonfiguration ergeben. Sie behindert Entwicklungspotenzial also nicht, indem sie Persönlichkeits-Eigenschaften als unverrückbar darstellt, sondern sie verweist stattdessen auf die Potenziale, die jeder Mensch hat, das Leben stimmiger zu leben.

Im Sinne einer praxisorientierten Beschreibung der PSI-Theorie werde ich hier also nicht auf die wissenschaftlichen Grundlagen eingehen, sondern das Spektrum der Ergebnisse und ihrer Bedeutung für den Coachingprozess schildern.

Erstreaktionen

Als Erstreaktionen beschreibt die PSI-Theorie unseren automatischen, reflexhaften Umgang mit unserer Umwelt. Damit wird beschrieben, dass jemand möglicherweise dazu tendiert, z.B. übermäßig selbstkritisch oder besonders sorgfältig zu sein. Im Wesentlichen entsprechen diese Erstreaktionen den klassischen Persönlichkeitsstilen. Im Zuge der Auswertung werden die Ergebnisse dann relativ zu der Alters- und Geschlechtsreferenz quantifiziert. Es ist also mit einem Blick möglich, außergewöhnliche Ausschläge, also ausgeprägtere Persönlichkeitsstile, zu erkennen. Allein dies kann schon einen Einstieg in das Coachinggespräch ergeben, z.B. wenn diese Ausprägung der eigenen Wahrnehmung entspricht und wiederholt zu einem Leidensdruck führt.

Zusätzlich testet die PSI-Theorie aber auch die Erstreaktionen unter Stress, d.h. unter Bedingungen, die als hohe innere Beanspruchung wahrgenommen werden. Hier zeigt sich schnell, ob die Erstreaktionen dazu geeignet sind, eine beanspruchende Situation eher zu lösen oder eher zu verschärfen. Wenn jemand z.B. unter Stress dazu neigt, nachlässiger aber gleichzeitig auch selbstkritischer zu werden, dann potenziert sich ggf. das Problem. Auch hier sind natürlich sehr leicht Ansätze für ein Coachinggespräch aufzuspüren.

Im Übrigen kann die Analyse der Persönlichkeitsstile spielend in eine Betrachtung aus der Perspektive von Anteilemodellen überführt werden.

Motive

Die Betrachtung der Motive ist ein für mich zentraler Bestandteil der PSI-Diagnostik. Kuhl bezeichnet Motive als intelligente Bedürfnisse – was ihrem Stellenwert auf jeden Fall gerecht wird. Psychologisch betrachtet handelt es sich bei Motiven um sogenannte Dispositionen – also mehr oder weniger dauerhafte individuelle Anlagen – durch bestimmte Handlungen und in bestimmten Kontexten Befriedigung zu erfahren. Im Wesentlichen unterscheidet man dabei das Anschlussmotiv (Nähe, Sicherheit, Geborgenheit, Austausch), das Leistungsmotiv (Wettbewerb, Herausforderungen, Erfolg), das Machtmotiv (Einfluss auf andere, Führung, helfen und Rat geben) und schließlich das Freiheitsmotiv (Selbstwachstum, Abgrenzung, aber auch Status). Dabei deuten wir Kontexte als Gelegenheit, unsere Motive zu befriedigen. Kommt also eine anschlussmotivierte Person in eine Gruppe, dann sieht sie darin tendenziell die Gelegenheit, Nähe und Geborgenheit oder auch gemeinsamen Spaß zu erleben. Kommt stattdessen eine leistungsmotivierte Person in diese Gruppe, sieht sie möglicherweise primär die Gelegenheit, in den Wettbewerb zu treten. Machtmotivierte Personen neigen hingegen dazu, in dieser Konstellation die Möglichkeit zu erkennen, Einfluss auszuüben, zu beeindrucken oder zu unterstützen und zu beraten.

Wie das Wissen um die Motive von Teamitgliedern genutzt werden kann, um ein Team schlagkräftiger zu machen, beschreibe ich im Übrigen in einem anderen Blogbeitrag am Beispiel von professionellen Sportmannschaften.

Die PSI-Diagnostik testet also die Motive, und zwar im ersten Schritt die bewussten Motive. Damit sind diejenigen Motive gemeint, die wir artikulieren können und die uns präsent sind. Dabei wird nicht nur die Motivstärke (wieder mit Referenz zur Altersklasse und zum Geschlecht) getestet, sondern zusätzlich aus welchen inneren Systemen diese Motive gespeist sind. Beispielsweise können Motive aus der Ratio, d.h. eher kalkulierend-planmäßig, gespeist werden, sie können eher intuitiv umgesetzt werden oder aber sie können ebenso auch angstbehaftet sein. Für diese Unterscheidung greift PSI mit den sogenannten Makrosystemen auf neurobiologische Erkenntnisse über unsere Hirnfunktionen zurück.

Durch die Diagnostik erfahren wir also, welche Motive uns im Umgang mit der Umwelt antreiben. Genauer gesagt sind es aber eben lediglich die bewussten Motive. Jene, die wir möglicherweise in unserer Entwicklung gelernt haben, wertzuschätzen und zu verfolgen – oder zu meiden. Die bewussten Motive müssen jedoch nicht unbedingt mit unseren unbewussten Motiven übereinstimmen. Bei Letzteren handelt es sich um tiefe, unbewusst-verborgene Antreiber unseres Handelns, häufig auch als die wahren Gründe unseres Handels bezeichnet. PSI testet die unbewussten Motive klassisch durch eine Art Apperzeptionstest, also durch Tests davon, wie wir bildhaft dargestellte Situationen auffassen und deuten. Decken sich die bewussten und unbewussten Motive nicht, dann entstehen Motivdiskrepanzen, deren Aufrechterhaltung nur mit viel Energie gelingt. Hat also z.B. eine Person „gelernt“, dass Beziehungen von hohem Wert sind und versucht entsprechend, partnerschaftliche Beziehungen einzugehen, dann ist das möglicherweise mit hohem Aufwand und regelmäßigem Scheitern verbunden, wenn diese Person unbewusst nur gering beziehungs- und stattdessen eher freiheitsmotiviert ist.

Zweitreaktionen

So weit, so gut. Bis hierhin könnte die PSI-Diagnostik rein als ein Test verstanden werden, der einen Status in Bezug auf bestimmte Eigenschaften abfragt. Damit ist die Diagnostik jedoch noch nicht an ihrem Ende. Denn zusätzlich testet PSI die sogenannten Zweitreaktionen.

Diese Zweitreaktionen stellen aus meiner Sicht den konzeptionellen Kern und den entscheidenden Ausdruck der Haltung der PSI-Theorie dar. Der Begriff beschreibt unsere Fähigkeit, der reflexhaften Erstreaktion eine bewusst eingesetzte Zweitreaktion entgegenzusetzen. Tendiert also z.B. eine Person in der Erstreaktion dazu, auf den Anspruch, eine öffentliche Rede zu halten, selbstunsicher und ängstlich zu reagieren, kann sie dem durch eine geübte Zweireaktion begegnen. Die wesentlichen Eigenschaften, die uns eine geeignete Zweitreaktion ermöglichen, bestehen in der Fähigkeit des Selbstzugangs und der Selbstregulation und mit ein paar Abstrichen der Selbstkontrolle und der Willensbahnung.

Diese Zweitreaktionen – oder auch die Fähigkeit zur Selbststeuerung – stellen also zentrale Aspekte im Coachingprozess dar. Hier gilt es, Kompetenzen zu erwerben, mit deren Hilfe erfahrungsgemäß negative Erstreaktionen verhindert und stattdessen günstigere Zweitreaktionen ausgeführt werden können. Das dies nicht einfach zu bewerkstelligen ist und schon gar nicht ein bloßer kognitiver Willensakt ist, liegt auf der Hand. Auch löst eine PSI-Diagnostik nicht von selbst vorhandene Probleme in Luft auf. Allerdings wirft sie ein recht präzises Licht auf die potenziellen Ursachen für den von Klient:innen wahrgenommenen Leidensdruck und unterstützt den Coachingprozess somit fundiert bei der Aufstellung hilfreicher Hypothesen.

Nutzen der PSI-Theorie für meine Praxis

Die PSI-Theorie lässt sich sehr vielfältig verwenden, wenn man darauf abzielt, echte Erkenntnisse zur Persönlichkeit zu erlangen und nicht nur eine oberflächliche, typisierende Betrachtung anstrebt. Klienten kann ein valider Test wie der PSI-Test z.B. glaubwürdig und auf den Punkt spiegeln, welche Persönlichkeitseigenschaften das Potenzial haben, die eigene Entfaltung zu behindern. Daher nutze ich diesen Test sehr gerne als Initialpunkt eines intensiven 1-zu-1 Coachings, bei dem es darum geht, destruktive Muster aufzudecken und zu verändern, ob im privaten Kontext oder im beruflichen Umfeld. Daher ist dieser Test auch für Unternehmen interessant, um unternehmensintern auftretende Konflikte zu beheben oder zu vermeiden und die Zusammenarbeit in Teams zu verbessern. Damit erschöpft sich der Sinn des PSI-Tests im professionellen Kontext jedoch nicht. Wie bereits oben beschrieben, halte ich die Kenntnis der individuellen psychologischen Motive im Leistungssport für unerlässlich, um die maximale Leistung eines Teams herauszuholen. Der Einsatz des Test lässt sich damit auch auf Fragen des Assessments erweitern, wenn beispielsweise ein tieferer Einblick in die Persönlichkeitsstruktur von Bewerbern in der letzten Auswahlrunde benötigt wird oder wenn Teams hinsichtlich ihrer Persönlichkeiten passend zusammengestellt werden sollen.

Die Einsatzmöglichkeiten der PSI-Theorie sind also offensichtlich vielfältig.

Im Übrigen: Die PSI-Theorie ist über viele Jahre von Julius Kuhl an der Universität entwickelt worden – sie ist wissenschaftlich validiert! Dies trifft auf so populäre (weil gut vermarktete) Tests wie DISG oder z.B. den sogenannten Myers-Briggs-Typenindikator nicht zu.

Gerne beantworte ich alle Fragen dazu!