Einleitung: Alltagsweisheiten mit Widerspruchskraft
Manchmal sagen wir Dinge wie: “Eile mit Weile“ und “Weniger ist mehr”, manch ein Schmerz ist „bittersüß“, wir verspüren „Hassliebe“, etwas ist „schrecklich schön“ oder wir befinden uns in einem „kontrollierten Chaos“. Solche Redewendungen und Worte begegnen uns in Gesprächen, auf Postkartenmotiven oder als Kalendersprüche. Auf den ersten Blick scheinen sie widersprüchlich oder sogar unsinnig. Doch gerade in ihrer paradoxen Struktur liegt eine besondere Form von Weisheit: Sie vereinen Gegensätze, statt sie aufzulösen.
Diese sprachlichen Figuren, sogenannte Oxymora, sind mehr als ein bloßes Stilmittel. Sie können als Spiegel eines reifen, dialektischen Umgangs mit der Welt verstanden werden – einer Haltung, die für Coaching, Therapie und persönliche Entwicklung von zentraler Bedeutung ist.
Und wegen ihrer Bedeutung möchte ich in diesem Beitrag einmal sowohl ihre literaturhistorische Rolle als auch ihr Potenzial für das Coaching aufzeigen.
Teil 1: Sprachhistorische Wurzeln paradoxen Denkens
Das lateinische “festina lente” („Beeile dich langsam“), das auf den römischen Kaiser Augustus zurückgeht, ist eines der ältesten belegten Oxymora. Seine deutsche Entsprechung “Eile mit Weile” wurde bereits im 16. Jahrhundert als Sprichwort überliefert. Auch “In der Ruhe liegt die Kraft” hat seine geistigen Wurzeln im Taoismus und in der stoischen Philosophie. “Weniger ist mehr” wurde durch den Architekten Mies van der Rohe populär, hat aber seine tiefere Entsprechung bereits in romantischen und stoischen Gedankenwelten.
Oxymora sind also keine moderne Erfindung, sondern Ausdruck einer langen Tradition, Widersprüche nicht als Fehler, sondern als Quelle von Tiefe und Einsicht zu verstehen.
Sprachhistorisch sind sie tief verankert.
Ihre Langlebigkeit verdanken diese Wendungen der Tatsache, dass sie komprimierte Lebenserfahrungen enthalten. Sie sprechen Themen an, die unabhängig von Zeit und Kultur gelten – etwa das Gleichgewicht von Tempo und Bedacht, von Verzicht und Fülle oder von Ruhe und Kraft. Gerade weil sie mehrdeutig sind, bleiben sie anschlussfähig für unterschiedliche Lebenssituationen.
Teil 2: Oxymora in Mystik, Aufklärung und Klassik
Die Mystik (z. B. Meister Eckhart, 13.–14. Jahrhundert) betont die Unaussprechlichkeit der Wahrheit. Paradoxe Formulierungen wie “Gott ist ein Nichts, das alles ist” entziehen sich der Logik vollständig. Oxymora sind hier keine dialektischen Denkfiguren, sondern Ausdruck einer transrationalen Gotteserfahrung. Mystik umarmt das Paradox, ohne es dialektisch auflösen zu wollen – sie will nicht integrieren, sondern transzendieren.
Die Aufklärung (ca. 1700–1780) bildet dazu einen klaren Gegenentwurf. Sie stand im Zeichen der Vernunft und Rationalität: Der Mensch als vernunftbegabtes Wesen sollte sich durch Verstand aus Unmündigkeit befreien. Das Denken und somit die Sprache waren linear, analytisch und zielte auf Klarheit. Widersprüche galten als Probleme, die es zu lösen gilt. In der Literatur finden sich entsprechend klare, argumentativ strukturierte Texte – etwa bei Gotthold Ephraim Lessing, der in Nathan der Weise Vernunft und Toleranz in logischen Dialogen aufeinandertreffen lässt. Kants „Sapere aude – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ ist geradezu ein Gegenentwurf zur Ambivalenz: ein Aufruf zur eindeutigen Entscheidung.
Die Klassik (v. a. Goethe & Schiller, ca. 1770–1830) knüpft zwar an die Aufklärung an, geht aber darüber hinaus. Sie sucht nicht nur nach Wahrheit, sondern nach Harmonie, nach einem Ausgleich der Kräfte: Verstand und Gefühl, Form und Inhalt, Wille und Schicksal. In dieser Epoche finden wir viele oxymoronale Strukturen, etwa bei Goethe: “Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust” (Faust I), oder bei Schiller: “Anmut ist eine Schönheit, die nicht gewollt wird.” Der Mensch ist hier ein Spannungswesen – erst in der Synthese von Gegensätzen (Tatkraft und Zweifel, Geist und Sinnlichkeit) entsteht Humanität.
Fazit: Die Mystik überschreitet den Widerspruch, die Aufklärung analysiert ihn, die Klassik integriert ihn.
Teil 3: Psychologische Deutung – die vier Makrosysteme der PSI-Theorie
Die PSI-Theorie nach Julius Kuhl unterscheidet vier psychische Makrosysteme:
- Objekterkennungssystem – verantwortlich dafür, Unstimmigkeiten zu entdecken, assoziiert mit negativen Affekten wie Furcht und Vorsicht.
- Intentionsgedächtnis – verantwortlich für die lineare, rationale Betrachtung und das Planen von Handlungen.
- Intuitive Verhaltenssteuerung – verantwortlich fürs Handeln und Machen, assoziiert mit positivem Affekt
- Extensionsgedächtnis – verantwortlich für ganzheitliche Erfahrung und ganzheitliches, vernetztes und nicht-lineares Wissen. Umfangreiches Netzwerk biografischen Wissens, emotionaler Erfahrungen und Wertorientierungen.
Wenn Menschen sich in inneren Widersprüchen verheddern („Ich will etwas, darf es aber nicht“, „Ich fühle beides gleichzeitig, kann mich aber nicht entscheiden“), befinden sie sich oft in einer Schleife zwischen Intentionsgedächtnis und Objekterkennungssystem. Sie wollen etwas richtig machen, erkennen aber gleichzeitig alle möglichen Fehler, Risiken und Dilemmata. Das führt zu Anspannung, Kontrollverhalten und innerer Blockade. Entschlossenes Handeln wird so unmöglich.
Andere Menschen wiederum fliehen aus der Ambivalenz direkt ins Handeln. Ihre intuitive Verhaltenssteuerung ist überaktiviert. Statt innezuhalten oder abzuwägen, greifen sie zu spontanen Lösungen, die oft zu impulsiven oder wenig reflektierten Handlungen führen. Typische Anzeichen für diese „Flucht nach vorn“ sind zum Beispiel vorschnelles Zusagen zu Projekten, übereilte Entscheidungen in Beziehungskonflikten oder hektisches Aktivwerden, um ein unangenehmes Gefühl nicht aushalten zu müssen. Das Handeln wirkt nach außen tatkräftig, ist aber oft eine Vermeidungsstrategie gegenüber innerer Spannung.
In beiden Beispielen ist das Extensionsgedächtnis nicht aktiviert, es fehlt damit der Zugang zur inneren Weite. Denn das Extensionsgedächtnis ist das System, das Gegensätzliches halten kann, ohne vorschnell zu handeln oder sich innerlich zu blockieren. Es ermöglicht Selbstberuhigung, Integration und eine ganzheitliche Sicht auf das Erleben.
Oxymora – als sprachliche Form – aktivieren genau diesen Modus: Sie fördern die Ambiguitätstoleranz, indem sie nicht zur Entscheidung zwingen, sondern zur Akzeptanz des Sowohl-als-auch einladen. Sie ermöglichen ganzheitliches Erleben, indem sie Gefühl und Verstand, Licht und Schatten und Handlung und Sein verknüpfen. Sie sprechen die Intuition an, die nicht rational auflösbar ist und erzeugen Tiefe – besonders in der klassischen Literatur –, indem sie Resonanz mit existenziellen Themen – Tod, Liebe, Verlust, Sinn – schaffen.
Teil 4: Oxymora in Coaching und Therapie nutzen
Oxymora können in Beratung und Begleitung als Intervention eingesetzt werden. Hier einige Beispiele:
- Sprichwörter zur Reflexion: Was heißt „Eile mit Weile” für dich konkret?
- Biografische Impulse: Welche Erfahrungen waren „bittersüß”?
- Kreatives Schreiben: Texte mit Titeln wie „Der süße Schmerz” oder „Das beredte Schweigen”
- Symbolarbeit: Zwei Karten mit Gegensätzen auswählen und integrieren
Der Clou: Diese Interventionen entlasten vom “Lösungsdruck”. Sie helfen Menschen, in Ambivalenz nicht stecken zu bleiben, sondern sich darin zu erleben. Gerade bei Menschen, die zwischen “Ich sollte” (Intentionsgedächtnis) und “Ich darf nicht” (Objekterkennung) hin- und hergerissen sind – oder bei denen das Handeln der Reflexion vorausgeeilt ist –, können Oxymora einen Ausstieg ins Weite ermöglichen.
Schluss: Sprache als Zugang zur inneren Integration
Oxymora sind kleine Zumutungen an unser lineares Denken. Doch genau darin liegt ihre Kraft. Sie helfen uns, das Leben nicht trotz, sondern durch seine Widersprüche zu begreifen. In einer Welt, die auf schnelle Antworten drängt, laden sie uns ein, die Komplexität zu halten, statt sie zu fliehen.
Und vielleicht ist genau das der Anfang von psychischer Reife: Wenn wir aufhören, die Dinge zu spalten, und anfangen, sie zusammenzudenken.