Der ethische Imperativ, um den es hier gehen soll, wurde von Heinz von Foerster aufgestellt. Ich greife ihn in diesem Blog auf, da ich ihn für eine wirklich hilfreiche und schöne Orientierung im Leben halte, seine Tragweite und Kraft aber gleichzeitig – so finde ich – in der obigen Originalformulierung nur schwer erkennbar ist. Ich werde also versuchen, seine Bedeutung etwas herauszuschälen, um ihn im Alltag verwendbarer zu machen. Ob dabei jede meiner Deutungen mit von Foersters Deutungen übereinstimmen würde, sei mal dahingestellt. Dass wir aber ein Recht auf eine eigene Interpretation haben, dem hätte er vermutlich zugestimmt. In diesem Sinne möge jeder diesen Text so deuten, dass das Ergebnis maximal positiv für sie oder ihn ist.
Schrittchen für Schrittchen werde ich nun also versuchen, durch die Gedankenwelt von Foersters zu führen und den Imperativ dabei aufzulösen. Dabei orientiere ich mich – wer nachlesen möchte – im Wesentlichen an dem Buch „Sicht und Einsicht“.
Zwei Phänomene sollen das Thema ein wenig einleiten.
Jeder möge dieses Phänomen hier einmal austesten: Hält man sich das linke Auge zu, fixiert mit dem rechten Auge den Stern so, dass der Kreis in der Peripherie noch auftaucht und bewegt sich sodann auf einer zum Monitor senkrechten Achse vor und zurück, dann verschwindet bei einem bestimmten Abstand der schwarze Kreis – spurlos. Was physiologisch passiert, ist, dass der Kreis auf denjenigen Teil der Netzhaut projiziert wird, der keine Rezeptoren aufweist, weil dort der Sehnerv gebündelt aus dem Auge tritt. Keine Rezeptoren, kein Abbild. Zu der bekannten Metapher für die konstruktivistische Sicht auf Wahrnehmung wurde das Phänomen des blinden Flecks jedoch vor allem deshalb, weil der Kreis vollständig ausgeblendet wird und stattdessen ein – an dieser Stelle gar nicht vorhandener und in diesem Fall weißer – Hintergrund erscheint. Man könnte sagen, das Hirn ersetzt die Fehlstelle mit dem, was es für das naheliegendste hält.
Dabei nehmen wir nicht wahr, dass wir nicht wahrnehmen!
Das zweite Phänomen lässt sich hierbei beobachten: Wiederholt sich ein einzelnes Wort, z.B. auf einem Tonband, ohne Unterbrechung eine Vielzahl von Malen, verwandelt sich dieses Wort in eine sogenannte Alternante. Dabei handelt es sich um ein alternatives, sinnvolles und klar verständliches Wort, das mit dem Ursprungswort keine inhaltliche Verbindung aufweist. Diese Wechsel können im weiteren Verlauf immer wieder auftreten, mit immer anderen Alternanten.
D.h. wir nehmen etwas wahr, das gar nicht da ist!
Diese beiden Phänomene ziehen wir mal als Kronzeugen für von Foersters zutiefst konstruktivistische Behauptung heran:
„Die Umwelt, die wir wahrnehmen, ist unsere Erfindung“
Das ist starker Tobak und es lässt sich trefflich über die Details streiten. Heinz von Foerster vertritt diese Haltung sogar sehr konsequent, weswegen er gemeinhin dem radikalen Konstruktivismus zugerechnet wird (was er nicht möchte, wie er sagt). Ich selbst differenziere – grob gesagt – zwischen der Wahrnehmung gegenständlicher Phänomene (z.B. eines Stuhls oder Tischs) und der Wahrnehmung sozialer Beziehungen. Im ersten Fall finde ich das mit der Wahrnehmungserfindung ein wenig theoretisch (immerhin aber für die Theoriebildung hilfreich), im zweiten Fall sehe ich zusätzlich echte alltagstaugliche Konsequenzen!
Im nächsten Schritt müssen wir verstehen, dass von Foerster Wahrnehmen und Handeln praktisch gleichsetzt.
„Wahrnehmen ist Handeln“
Einleuchtend wird das sicherlich bereits durch die oben genannten Beispiele des blinden Flecks und der Alternanten: Handeln kann ich immer nur auf der Basis dessen was ich wahrnehme. Von Foerster führt aber noch ein weiteres interessantes Phänomen als Untermauerung an, und zwar das Skotom, also eine (krankhafte) Herabsetzung der visuellen Sensibilität in Teilbereichen des Gesichtsfeldes. Er berichtet in diesem Zusammenhang von Verletzungen in Teilbereichen des Hirns, die zwar nicht zu einer bewussten Einschränkung des Sichtfeldes führen – man nimmt also nicht direkt wahr, dass man nicht wahrnimmt –, die aber Einschränkungen der koordinativen Fähigkeiten zur Folge haben. Diese lassen sich beheben, indem die visuelle Wahrnehmung durch ein Training der propriozeptiven Wahrnehmung ergänzt wird. Dieses Training besteht, grob gesagt, daraus, sich über einen längeren Zeitraum nur mit verbundenen Augen zu bewegen, um damit die Wahrnehmung der Körperlage im Raum zu schulen. Handeln (bewegen) wird zur Wahrnehmung, Wahrnehmung ist untrennbar an Handlung gebunden.
Auf dieser Basis könnte man nun also – weniger griffig als im Original, dafür aber ein wenig verständlicher – den ethischen Imperativ auch so formulieren:
„Nimm stets so wahr und handle stets so, dass Du die Anzahl der Handlungsmöglichkeiten vergrößerst“
Nun ist das mit der Wahrnehmung so eine Sache. Man kann nicht einfach entscheiden, anders wahrzunehmen. Aber die Wahrnehmung lässt sich ändern und dass das eine lohnenswerte Sache ist, versuche ich jetzt weiter darzustellen (im Übrigen bezieht sich der Eintrag über Pipi Langstrumpf im Prinzip auch auf dieses Phänomen).
Dass unsere Wahrnehmung kein direktes Abbild unserer Umwelt ist, wurde ja schon weiter oben mit dem Satz über die Erfindung der Umwelt deutlich. Diesen Satz möchte ich durch zwei Aspekte weitere untermauern.
Der erste Aspekt ist ein – faszinierender, wie ich finde – physiologischer Aspekt. Im Grunde verfügen wir über periphere Rezeptoren, die über Nervenbahnen mit dem zentralen Nervensystem (ZNS) verbunden sind. Diese Rezeptoren sind auf bestimmte Reize spezialisiert, z.B. auf Druck, Wärme oder Licht. Werden sie erregt, dann senden sie oberhalb einer gewissen Schwelle eine Serie von elektrischen Impulsen über die Nervenbahnen an das ZNS. Je nach Intensität des äußeren Reizes erhöht sich die Pulsrate – sonst nichts. Die gesamte Information, die wir über die Umwelt erhalten, ist somit zweifach kodiert: zum einen die Pulsrate selbst und zum anderen die Spezialisierung der Rezeptorzellen bzw. ihre entsprechende „Verkabelung“ mit dem Gehirn. Aus der unermesslichen Vielzahl dieser elektrischen Impulse generiert das Gehirn also einen Sinneseindruck bzw. eine Erfahrung. Dabei wird Quantität transportiert, nicht eine tatsächlich Umweltqualität! Konstruktivisten wie Heinz von Foerster verstehen die Entstehung eines Sinneseindrucks im Gehirn als rekursiven Verarbeitungsprozess, bei dem die eintreffenden Signale zu weiteren Signalen verarbeitet werden, die zu weiteren Signalen verarbeitet werden … bis ein stabiler Sinneseindruck entsteht. In der Synergetik würde man hier von einem Selbstorganisationsprozess sprechen, der zu einem stabilen Attraktor führt. Wie auch immer – es grenzt für mich an ein Wunder, dass dabei tatsächlich konsistente Sinneseindrücke entstehen. Es wundert mich hingegen gar nicht, dass dabei gelegentlich Wahrnehmungen entstehen, die mit der Wahrnehmung anderer Gehirne nicht übereinstimmen.
Der zweite Aspekt hat mit Aufmerksamkeit und der Folge unserer begrenzten Aufmerksamkeitskapazität zu tun. Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass wir nicht in der Lage sind, alle verfügbaren Reize aus der Umwelt aufzunehmen und gleichzeitig zu verarbeiten. Daher entsteht Wahrnehmung dort, wo wir unsere Aufmerksamkeit hinrichten, unsere Aufmerksamkeit wirkt also wie eine Vorselektion für die Wahrnehmung. Richte ich meine Aufmerksamkeit beim Autofahren auf die Verkehrssituation, dann entgehen mir naturgemäß andere Umweltreize. Fokussiere ich darauf, wie andere Menschen im Alltag auf mich reagieren, dann nehme ich hier eine hohe Auflösung von Umweltreizen wahr. Manchmal richten wir unsere Aufmerksamkeit also bewusst und willentlich in eine Richtung, z.B. auf den Straßenverkehr. Manchmal tun wir dies allerdings auch wie automatisch, z.B. um uns Dinge zu bestätigen, an deren Richtigkeit wir gerne glauben. Wir suchen in einem solchen Fall also nach Reizen in der Umwelt, die dazu geeignet sind, unsere Vorstellungen von der Welt im Sinne eines stabilen Bildes zu bestätigen. Der Rest wird dann, z.B. basierend auf Erfahrungen, hinzukonstruiert.
Lange Rede, kurzer Sinn: Ich hoffe die Aussage, dass wir unsere Umwelt erfinden, ist durch die obigen Ausführungen nachvollziehbar oder zumindest akzeptabler geworden.
Was hat das aber nun mit Ethik zu tun? Hierzu hat Heinz von Foerster in einem Interview mit Bernhard Pörksen gesagt: „… die Referenz auf die Außenwelt und das Gegebene läßt sich, so behaupte ich, wunderbar verwenden, um die eigene Verantwortung zu eliminieren.“ Und dann weiter: „Die Welt als eine Erfindung aufzufassen, heißt, sich als ihren Erzeuger zu begreifen; es entsteht Verantwortung für ihre Existenz“. Das bedeutet, meine eigene Wahrnehmung nicht als objektive Realität zu verstehen, die von einem „objektiven Außen“ determiniert ist und somit anzuerkennen, dass es die eine Wahrheit nicht gibt, sondern dass sie stets eine subjektive Konstruktion ist, die grundsätzlich erstmal gleichberechtigt neben all den anderen Wirklichkeitskonstruktionen steht. Der ethische Aspekt besteht dann darin, anderen die eigene Wahrheit nicht oktroyieren zu wollen, da man glaubt, im Alleinbesitz „der Wahrheit“ zu sein. Heinz von Foerster formuliert es in besagtem Interview so: „Gemeint ist, daß man die Aktivitäten eines anderen nicht einschränken soll, sondern, daß es gut wäre, sich auf eine Weise zu verhalten, die die Freiheit des anderen und der Gemeinschaft vergrößert.“ Und weiter: „Nur wer frei ist – und immer auch anders agieren könnte –, kann verantwortlich handeln. Das heißt: Wer jemandem die Freiheit raubt und beschneidet, der nimmt ihm auch die Chance zum verantwortlichen Handeln. Und das ist unverantwortlich.“ Also unethisch, da der Handlungsspielraum einer Gemeinschaft dadurch beschnitten wird. Heinz von Foerster geht sogar so weit zu sagen:
„Wenn der Begriff der Wahrheit überhaupt nicht mehr vorkäme, könnten wir vermutlich alle friedlich miteinander leben.“
Angesichts einer Geschichte kriegerischer Auseinandersetzungen über „Wahrheiten“, wie z.B. religiöser oder anderweitig begründeter Überlegenheit gegenüber anderen, keine so schlechte Haltung wie ich finde.
Ein Aspekt, der bei von Foersters Ausführungen meines Erachtens nicht ausdrücklich auftaucht, den ich aber für nicht minder wichtig halte, ist, dass jeder den ethischen Imperativ auf sich selbst anwenden kann und damit sich selbst gegenüber ethisch handeln kann. Unsere Wirklichkeitskonstruktionen sind häufig so stabil und langlebig, dass sie uns in unserem Handeln massiv einschränken können. Wir sehen buchstäblich unseren Handlungsspielraum nicht mehr und sind uns dessen – wie beim blinden Fleck – gar nicht bewusst. Im Coachingkontext nennt man solche unhinterfragten Wirklichkeitskonstruktionen – wie z.B. „Ich muss leisten“, „Ich darf nicht zur Last fallen“, „Ich bin zu dick“, „Ich muss brav sein“, „Ich genüge nicht“, „Ich bin nicht liebenswert“ (die Liste ließe sich fortsetzen) –, Glaubenssätze. Aber das ist es eben, wir glauben eben nur an diese Wirklichkeitskonstruktionen, der “Wahrheit“ entsprechen sie deswegen noch lange nicht. Oder wie es so schön heißt: Glaube nicht alles was du denkst! Im Coaching und in der Therapie kann man lernen, solche Glaubenssätze zu identifizieren, sie zu hinterfragen und schließlich auch zu relativieren. Ethisch ist daran, dass man sich damit neue Handlungsspielräume erschließt und mit diesem Handeln neue Wirklichkeiten schafft, die im Idealfall stimmiger für das eigene Erleben sind. Ich finde, das ist man sich selbst schuldig.
Die Neugierigen und Mutigen unter den Lesern können daher ja einmal in sich gehen und versuchen, ihre Aufmerksamkeit bewusst auf die Wahrnehmung ihrer Glaubenssätze zu lenken. Also zu versuchen, den blinden Fleck zu sehen! Ganz im Sinne von Heinz von Foerster wäre das ein erster Schritt, Verantwortung für seine Wahrnehmung und in der Folge für seine eigenen Handlungen zu übernehmen. Lebensverändernde Folgen lassen sich dabei allerdings nicht ausschließen.
Falls dich das neugierig gemacht hat, dann nimm gerne Kontakt auf!