Das Anteilemodell von Richard Schwartz

Eine Frage, die Klienten sehr häufig beschäftigt, ist jene nach der Identität. Wer bin ich eigentlich? Was ist es genau, was ich will für mein Leben? Wie möchte ich mein Leben eigentlich leben? Die Frage zielt letztlich auf die Fähigkeit ab, zwischen dem differenzieren zu können, was tatsächlich in meiner Natur, in meinen Talenten und in meinem Herzen liegt und jenem, was mir durch Erziehung und Sozialisierung als richtig und gut beigebracht wurde – aber möglicherweise gar nicht meinem Selbst entspricht. Wir alle laufen mit elterlichen, partnerschaftlichen und gesellschaftlichen Aufträgen durchs Leben und versuchen mit viel Aufwand, diesen Ansprüchen möglichst zu genügen. Das Selbst gerät dabei immer mehr in den Hintergrund und droht mit der Zeit immer mehr verschüttet zu werden, während gleichzeitig die Energiereserven immer weniger werden.

Methoden, die dabei behilflich sein können, diesen Zustand systematisch zu betrachten und aufzulösen, sind als Anteilemodelle bekannt. Richard Schwartz war einer der ersten Therapeuten, die eine solche Systematik für Individuen entwickelte und in der Therapie anwendbar gemacht hat. Mittlerweile existieren zahlreiche, unterschiedlich differenzierte Modelle, die im Coaching aber auch in der Therapie angewendet werden. Da das Modell von Richard Schwartz recht übersichtlich ist, dabei aber alle wesentlichen Komponenten enthält, möchte ich es hier kurz vorstellen.

Die wichtigste Grundannahme dieser Modelle besteht darin, dass wir nicht über eine einzige, monolithische Identität verfügen, sondern stattdessen aus vielen verschiedenen Anteilen (so ähnlich, wie wir auch unterschiedliche Motive und Persönlichkeitsstile haben). Je nach Kontext übernimmt mal der eine Anteil die Handlungsregulation, mal der andere. Auch wenn das Modell seinen Ursprung in der therapeutischen Praxis hat, kann die Identitätsforschung diese Grundannahme mittlerweile gut bestätigen. Wir sind in unterschiedlichen Kontexten tatsächlich immer wieder auch andere Menschen – sind mal selbstbewusst, mal ängstlich, mal offen, mal distanziert, mal voller Energie und dann wieder lethargisch.

Richard Schwartz hat diese Anteile insgesamt drei Kategorien zugeordnet: die Verbannten, die Manager und die Feuerbekämpfer. Die Verbannten tragen ihren Namen, da wir ungerne mit ihnen in Kontakt treten und sie deswegen hinter Mauern verbannt haben. Hierzu zählen Anteile, die in Kindertagen verletzt wurden und welche unangenehme Emotionen wie z.B. Scham, Trauer, Schuld oder Ohnmacht mit sich tragen. Sie haben Zurückweisung und Abwertung erlebt und möglicherweise auch traumatische Erlebnisse gehabt. Anders ausgedrückt haben sie in den relevanten Beziehungen – meist zu ihren Eltern – ihre psychologischen Grundbedürfnisse nicht erfüllt bekommen (siehe Blogbeitrag zu den psychologischen Grundbedürfnissen). Diesen Schmerz tragen die „inneren Kinder“ immer noch mit sich.

Weil einerseits ein kindliches, von Scham, Trauer und Schmerz geprägtes Verhalten nur wenig kompatibel mit unseren gesellschaftlichen Ansprüchen an Erwachsene ist, wir aber auch andererseits das Erleben dieser Gefühle zu unserem eigenen Schutz möglichst vermeiden möchten, verbannen wir diese Anteile nach Kräften. Diese Aufgabe übernehmen die Manager. Manager managen also unser „öffentliches“ Leben, erhalten die Fassade vor anderen aber eben auch vor uns selbst aufrecht. Manager können sehr unterschiedliche Charaktere haben. Z.B. gibt es den Erfolgreichen, den Macher oder den Perfektionisten. Sie sorgen möglicherweise dafür, dass wir möglichst wenig Fehler machen, um keine Angriffspunkte für Abwertung und Kritik zu bieten. Auch den Pessimisten und den Sorgenmacher kann es geben. Sie haben möglicherweise die Aufgabe, uns vor schmerzhaften Enttäuschungen zu bewahren, indem sie hoffnungsvolles Erwarten möglichst frühzeitig im Keim ersticken. Manager können auch als Opfer auftreten, z.B. dann, wenn wir als Kind weniger liebevolle Aufmerksamkeit erhalten haben, als wir brauchten. Wir haben dann möglicherweise gelernt, dass wir Fürsorge und Aufmerksamkeit nur dann erhalten, wenn es uns schlecht geht und haben das dann zu einem Handlungsprinzip erhoben. Es liegt auf der Hand, dass all diese Verhaltensweisen mit vielfältigen „Kosten“ verbunden sind. Wir erschöpfen uns, provozieren Konflikte, wir bleiben hinter unseren eigenen Möglichkeiten zurück. Die Wahrnehmung dieser Kosten ist es häufig, die den Bedarf nach Coaching bei Menschen aufkommen lässt.

Gelegentlich können die Manager damit überfordert sein, die Verbannten unter Kontrolle zu behalten. Es entsteht dann eine Situation, in der wir drohen, von all diesen unangenehmen Gefühlen und Erinnerungen übermannt zu werden. In dieser Situation springen die Feuerbekämpfer ein (im Englischen sind das die Firefighter, also die Feuerwehr – in den deutschen Übersetzungen hat sich jedoch der Begriff der Feuerbekämpfer etabliert). Sie übernehmen in einer schnellen, meist radikalen Reaktion die Kontrolle über das System und versuchen damit, die schmerzlichen Gefühle zu überlagern. Je nach individueller Biografie können sie unterschiedlich extreme Formen annehmen, wie z.B. unmäßiges Essen (Fressflash), das Konsumieren von Alkohol und Drogen, das Betreiben exzessiven Sports, Selbstverstümmelung, Spielsucht oder auch Promiskuität.

Verebbt die Energie der Feuerbekämpfer, dann übernehmen die Manager wieder. Nicht jedoch, ohne uns wegen des Kontrollverlusts verächtlich zu machen und uns mit Selbstvorwürfen zu quälen. Damit entsteht häufig ein unglücklicher Kreislauf. Denn die Reaktion auf den Kontrollverlust besteht für die Manger in der Regel darin, zukünftig noch rigider aufzutreten und die Mauern der Verbannung mit noch mehr Aufwand zu festigen und damit noch mehr Kosten zu verursachen. Die Verbannten werden ihre Ansprüche jedoch so lange nicht aufgeben, wie ihre Bedürfnisse unbefriedigt bleiben.

Bei Schwartz existiert noch eine vierte Instanz, die eigentlich die wichtigste ist. Das Selbst. Das Selbst verbinden wir mit Stimmigkeit, Vertrauen, Zuversicht, Gelassenheit und Mut. Wie bereits oben beschrieben, ist das Selbst häufig etwas verschüttet und durch die anderen Anteile überlagert. Es kommt nicht ausreichend zur Geltung, hat nicht genügend Macht und bestimmt unser Handeln weniger, als es uns guttäte. Das Ziel eines Coachings besteht darin, diesem Selbst wieder zu mehr Relevanz zu verhelfen, ihm die Position zu geben, die ihm zusteht. Für ein stimmiges Leben.

Selbstführung – Führung durch das Selbst

Der Weg, der dabei beschritten wird, lässt sich durch das Prinzip der Selbstführung erläutern. Hierbei können wir wenigsten drei Stufen unterschieden: Die Stufe des Alltagsbewusstseins, die Stufe der inneren Achtsamkeit und die Stufe der Selbstführung. Ich habe in der folgenden Grafik einmal versucht, dieses Modell anschaulich zu machen.

Anteilemodell und Selbstführungsmodell

In der ersten Stufe, dem Alltagsbewusstsein, besteht keine nennenswerte Verbindung zwischen dem Selbst und den Anteilen. Das Selbst verblasst vor dem Hintergrund der vielen Anteile, die jeweils situationsspezifisch das Handeln übernehmen. Dieser Zustand stellt – leider – den Normalzustand für die überwiegende Mehrheit der Menschen dar.

In der zweiten Stufe, der inneren Achtsamkeit, ist das Selbst in seiner zentralen Rolle angekommen. Es stellt jedoch hier erstmal nur einen Beobachter dar: Es in der Lage, die Anteile in ihrer Reaktion auf die Umwelt und in ihrem Handeln achtsam zu beobachten. In dieser Stufe haben wir also ein Bewusstsein dafür, welche Anteile in welchen Kontexten aktiv werden und wie wir uns dabei fühlen. Das Selbst wird zum „Beobachter 2. Ordnung“, d.h. wir beobachten uns selbst dabei, wie wir die Welt beobachten. In dieser Logik sind die Anteile die Beobachter 1. Ordnung, also die Beobachter der Welt.

In der dritten Stufe des Selbstführungsmodells hat das Selbst die Führungsrolle übernommen. Es beobachtet nicht nur, sondern kann eingreifen, indem es die Entscheidung über das Handeln nicht dem vorlautesten Anteil überlässt. Stattdessen wählt das Selbst situationsspezifisch aus, welcher Anteil auf den Umweltreiz reagieren und welcher Anteil sich zurückhalten soll. Wir treffen in diesem Zustand sehr souveräne Entscheidungen über unseren Umweltkontakt und tun dies aus einer Haltung, die von Stimmigkeit, Vertrauen, Zuversicht, Gelassenheit und Mut geprägt ist.

Viktor Frankl hat diesen Zustand in wunderbare Worte gefasst:

„Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum. In diesem Raum haben wir die Freiheit und die Macht, unsere Reaktion zu wählen. In unserer Antwort liegen unser Wachstum und unsere Freiheit.“

Im Übrigen konzeptualisiert die PSI-Theorie die Zweitreaktion sehr ähnlich. Dabei geht es um die Fähigkeit der Selbststeuerung, die sich aus der Selbstkontrolle (innere Diktatur), der Selbstregulation (innere Demokratie) und dem Selbstzugang (Beobachter 2. Ordnung) zusammensetzt.

Falls du auf die Suche nach deinen Anteilen gehen möchtest, dann melde dich gerne bei mir!

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